Kapitel 11 - Psyche – Erster Kontakt

31.05.2015 16:05


 Montag, 25. Mai 2015

Pfingstmontag, um genau zu sein.
Heute wäre auch der 80ste Geburtstag meiner Mutter, wenn sie nicht im letzten Herbst verstorben wäre. Sie möge in Frieden ruhen.

   Aber ob sie nun tatsächlich ruht, ist fraglich, denn ihr hinterbliebener Gatte hat ihre sterblichen Überreste in der Schweiz zu einem Diamanten verarbeiten lassen, und so bleibt sie dekorativ; das hätte ihr gefallen.

   Das klingt vielleicht zynischer als ich es meine, denn bei allen Schwierigkeiten, die wir hatten, sie war meine Mutter, und wir hatten vor ungefähr 30 Jahren Gespräche, in denen all mein Unmut, meine Vorwürfe und meine Enttäuschungen Thema waren. Sie hatte unerwartet aufrichtig reagiert, sich all meine Klagen angehört und mir dann ihre Seite der Geschichte erzählt. Sie hat darüber gesprochen, wie schwierig es war, 1965 als geschiedene Frau mit Kind zu leben, dass sie von befreundeten Ehepaaren nicht mehr eingeladen wurde, weil die Frauen befürchteten, sie würde ihnen ihre Männer abspenstig machen, dass sie permanent ein schlechtes Gewissen mir gegenüber hatte, weil sie berufstätig sein musste, und dass sie sich sehr häufig überfordert und hilflos vorgekommen sei.
   Nach dieser Aussprache hatten wir für eine ganze Weile ein gutes Verhältnis miteinander. Sie kam dann sogar zu meinem allerersten Auftritt als Solosängerin ins damalige ,FEEZ‘ nach Köln-Nippes.
 
   Sie war schon beim Soundcheck da, was mir zunächst ein wenig peinlich war, aber sie saß ganz unauffällig im hinteren Teil des Raumes und verfolgte das Geschehen.
Nachdem wir, die Bluesband ,Die dritten Zähne‘, fertig waren mit unseren Vorbereitungen, kam sie zu mir und sagte:

„Weißt du, Marion, nachdem ich das nun gehört habe, kann ich dir guten Gewissens nicht raten, irgendetwas anderes zu tun.“

   Da war ich dann erstmal ,baff‘. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Dieses späte mütterliche Lob hat mir sehr gutgetan. Sie blieb bis zum Ende der Veranstaltung und erzählte jedem:

   „Das da vorne ist meine Tochter!“

   Seit jenem Abend unterstützte sie meine Karriere mit Unmengen Modeschmuck und ausgefallenen Kleidungsstücken für mein Bühnen-Outfit und nicht selten mit finanziellen Zuwendungen, wenn es mal nicht so lief.
 
   Das war die Zeit, als ich zum ersten Mal im Leben so etwas Ähnliches wie ein Normalgewicht hatte, denn mit meinem Entschluss, Sängerin zu werden (und nach acht Jahren im Chor eine Gesangsausbildung zu machen) und mein Leben zu leben, egal was andere von mir erwarteten, hatte ich es geschafft, 60 Kilo abzunehmen.
Und dieses erste Konzert mit der Band war die Erfüllung meines von Kind an gehegten Wunschtraums: Sängerin!

   Seltsamerweise hatte meine Mutter ab dem Zeitpunkt, an dem ich begann abzunehmen, angefangen zuzunehmen. Jenes besagte Gespräch über die Mutter-Tochterbeziehung war ein Teil meiner Auseinandersetzung mit meiner Vergangenheit, der ich mich stellen musste, damals mit 25 Jahren.

   Ich war jahrelang eine dicke junge Frau, die mit großem Engagement im ,Chor Kölner Gewerkschafter‘ sang und im Laufe dieser kulturellen Betätigung mit einigen anderen Künstlern (Profis) zu tun hatte. Es gab Schauspiel-Workshops, gewerkschaftliche Kulturseminare, kommunistische Künstlertreffen usw.  

   Auf einer dieser Veranstaltungen sprach mich ein Schauspieler auf mein Gewicht an, und fragte mich, ob ich schon mal an eine Psychotherapie gedacht hätte. Ich war entsetzt! ,Jetzt bin ich auch noch bekloppt?‘ Aber diese Reaktion lag eher daran, dass ich keine Ahnung von Psychotherapie hatte. Jürgen, der Schauspieler, hatte dann etwas Geduld investiert und mir das Ganze mal erklärt, mir Adressen und Infos zukommen lassen, und vor allem berichtet, dass er ebenfalls Probleme mit dem Gewicht hätte.

   Ich bin dann nicht gleich losgerannt, um eine Therapie zu machen, aber zum ersten Mal hatte mich jemand auf den Gedanken gebracht, dass es Ursachen für mein Problem geben könnte, und dass ich eben nicht einfach nur Pech gehabt hätte, was meine Gestalt anging. Und als dieser Gedanke erst mal da war, setzte unaufhaltsam ein Umdenken ein, Veränderungen in meinem Leben wurden zwingend notwendig, und als ich, nach einem Jahr Wartezeit, aufgeregt in meiner ersten Therapiestunde saß, hatte ich die 60 Kilo schon abgenommen. Das war auch gut so, denn dadurch war die Aufarbeitung meiner Kindheit und Jugend frei von Erfolgsdruck.

   Ich beendete die Therapie nach gut einem Jahr, weil der Therapeut sich zu mir auf die Couch legte, um von seinen Ängsten in Höhlen zu reden. Ich war gar nicht empört, aber es machte mich verlegen. Ich neige zur Naivität – immer noch.