Kapitel 10 -Durchhalten-

16.05.2015 19:39


Freitag, 15. Mai 2015

   Natürlich wusste ich, dass bei einem solchen Körper-Projekt irgendwann diese Flaute eintritt, die erste Begeisterung sich legt. Die Moppelhops-Termine werden langweiliger, die Aquafit-Termine fallen aus, weil im Mai diese Donnerstagsfeiertage sind, die Laune sinkt.

   In der Süddeutschen Zeitung war zu lesen, dass eine Frau aus dem Kölner Umland ein Buch über ihre Magenverkleinerung geschrieben hat, Auszüge daraus waren in diesem Artikel zu lesen.

www.sueddeutsche.de/leben/adipositas-ich-habe-barbie-puppen-gekauft-um-sie-zu-quaelen-1.2463551

Ach ja, warum sollte gerade ich die erste sein, die sich zu diesem Thema schriftlich äußert? Meine Freundin Nicola versicherte mir aber sofort unaufgefordert, dass ich viel schöner schreibe.

   Mir fiel dann gleich wieder ein, dass ich Ende der 80er Jahre den Titel „Unchain My Heart“ mit meiner zweiten Bluesband ,AS BEERS GO BY‘ ins Programm genommen hatte. Ich hatte den Titel in der Schallplattensammlung meiner Eltern gefunden, es war die B-Seite von „If I Had A Hammer“ von Trini Lopez. Kaum einen Monat später kam Joe Cocker mit genau dieser Nummer in die Charts und er hatte damit sein riesiges Comeback. Etwa zur gleichen Zeit fand ich in einer Compilation, die mir mein zweiter Gatte zusammengestellt hatte, einen alten, weitgehend unbekannten Titel: „Why Don‘t You Do Right“. Auch diesen Song nahmen wir ins Repertoire auf. Es dauerte abermals nicht lange und der Film „Roger Rabbit“ kam in die Kinos, und was sang die Night-Club-Schönheit?

   Das wirkte dann so, als hätte ich mich an aktuelle Trends drangehängt, dabei hatte ich anscheinend nur den richtigen Riecher für kommende Trends.

   Jetzt ist also Durchhalten angesagt! Aber was kann ich über das Durchhalten schreiben?

   Es ist keine Frage, ich werde weitermachen. Immerhin habe ich eine erste „Schallmauer“ durchbrochen, ich wiege 159,4 kg, also unter 160 Kilo, das ist ein kleiner Erfolg.
 
   Die vierte Ernährungsberatung habe ich letzten Mittwoch hinter mich gebracht.

   Unsere muntere Oecotrophologin begann die Stunde mit dem Satz:
   „Jetzt machen wir eine kleine, schicke Übung zum Anfang.“

   Dabei verteilte sie bunte Zettel und Eddingstifte aus einer Plastikbox an die Teilnehmer und bat darum, keine Stifte zu klauen.

   Nun sollten wir aufschreiben, aus welchen Gründen wir essen würden. Es sei völlig egal, wie viele Gründe wir auf welche Farbe schreiben würden. Ich entschied mich für hellgrüne Zettel mit dunkelgrünem Stift, während die anderen immer noch mit dem Auswählen beschäftigt waren.

   „Blau für die Jungs und rosa für die Mädels“, schlug ich als Entscheidungshilfe vor, was aber nicht wirklich weiterhalf.

   Endlich war das Büromaterial unter die Leute gebracht und die Zettel wurden eifrig beschriftet.

   Ich schrieb ,Hunger‘ auf einen und ,Sehr, sehr schlechte Stimmung‘ auf einen zweiten Zettel.

   Nun sollten wir vorlesen, was wir aufgeschrieben hatten. Das fand ich enttäuschend unspektakulär, da hatte ich mir doch vorgestellt, dass diese bunten Zettel wenigstens an diese Aufstelltafel gepinnt würden, von wegen ,schicke Übung‘.

   Also lasen wir nacheinander vor: Gemütlichkeit, Geselligkeit, Langeweile, weil ,es‘ da ist; das hatten die meisten auf dem Zettel.

   Ich fragte nach dem Zusammenhang von Geselligkeit und Essen, weil ich wissen wollte, ob sie damit eine gemeinsame Mahlzeit mit Freunden meinten. Genau das war aber nicht gemeint, sondern Chips und Erdnüsse und Knabberkram aller Art, was anscheinend bei sehr vielen Menschen zur geselligen Gemütlichkeit zwingend dazu gehört. Zur einsamen Gemütlichkeit vor dem Fernseher gehört das für einige auch dazu.

   Und wie ist das bei mir?
 
   Sicher, wenn ,es‘ vorhanden wäre, wäre die Versuchung auch für mich groß, diesen Kram zu essen, aber meine Lösung des Problems liegt schon beim Einkauf, indem ich ,es‘ eben nicht kaufe. Und sogar auf Partys, wo solcher Kram schüsselweise rumsteht, sehe ich mich nicht gezwungen, davon zu naschen.

   ,Toll, Frau Radtke, wieso bist du dann eigentlich übergewichtig?‘, -

   fragte ich mich.

   Über die Gründe zu essen wurde, warum auch immer, gar nicht weiter gesprochen, und weiter ging es mit dem Hauptthema der Unterrichtsstunde: FETTE.

   Leider keine neuen Erkenntnisse für mich, alles schon mehrfach gehört, gelesen und seit Jahren bei meiner Nahrungszubereitung berücksichtigt.

   ,Gaaanz toll, Frau Radtke ...‘, lobte ich mich in Gedanken, ... aber wieso bist du dann eigentlich ...???‘

   Inzwischen entspann sich unter den TeilnehmerInnen eine leidenschaftliche Diskussion über Nüsse, Körner, Samen und fetthaltige Pflanzen. Angeführt wurde die Debatte von einer Frau, die zum ersten Mal in unserem Kurs saß und die sich mit ihrem zweiten Satz als Veganerin offenbarte.
 
   ,Auch das noch!‘ Meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, ich klinkte mich innerlich aus, malte kleine, schicke Ornamente auf mein Blatt und wurde erst aus meiner kleinen, schicken Kreativphase gerissen, als irgendwer sagte: „ ... und Amaranth kann man auch poppen.“


Dienstag, 19. Mai 2015

   Wie aus meinen vorangegangenen Schilderungen unschwer zu erkennen ist, bin ich kein Fan von der Oecotrophologin, die den Ernährungskurs leitet, an dem ich teilnehmen muss, damit die Krankenkasse die Kosten der OP übernimmt.

   Als wir unsere bunten Zettel vorlasen, kam unser einziger männlicher Teilnehmer zu Wort, der auch oft aus Langeweile gegessen hatte. Inzwischen sei ihm nicht mehr so langweilig, da er sich einen Hundewelpen gekauft hätte, raus aus der Stadt an den Fühlinger See gezogen sei und viel Freude und Bewegung hätte.
Er wirkte auch frischer, straffer, freundlicher, also deutlich verändert gegenüber seinem Zustand am Anfang des Kurses.

   „Ein Hund ist ein guter Plan.“, pflichtete ich ihm bei.

   „Ich habe auch einen Hund und betrachte ihn als meinen ,personal trainer‘!“

   Die Oecotrophologin wollte nun wissen, wie gross der Hund denn werden würde.

   „Nun, so etwa kniehoch“ gab der Mann Auskunft und zeigte dabei die ungefähre Größe mit der Hand an.

   „Ja, so ein richtiger Hund“ begeisterte sich die Oecotrophologin,

   „nicht so ein kleiner Kläffer!“

   Und da war er wieder, mein Unmut.

   „Vorsicht“, sagte ich, „dünnes Eis!“

   Die Oecotrophologin sah mich halb mitleidig, halb verächtlich an:

   „Ein Hund ist doch nur ein richtiger Hund, wenn er neben dem Fahrrad herlaufen kann.“

   Mal ganz abgesehen davon, dass mein kleiner Hund kein Kläffer ist, und dass das ,neben dem Fahrrad herlaufen‘ in der Kölner Innenstadt nicht unbedingt empfehlenswert ist, war ich fassungslos über dieses unsensible Dahergerede. Ich kann seit ca. drei Jahren gar nicht mehr radeln, weil ich zu schwer bin. Die Unfallgefahr ist viel zu groß, das Auf- und Absteigen bereitet mir Schmerzen in den Knien, aber ich vermisse es total.

   Glücklicherweise geht sie bald in den Mutterschutz, ich muss also ihr vorgetäuschtes Verständnis und ihr mangelndes Einfühlungsvermögen nur noch ein Mal ertragen.