Kapitel 12 -Wasserratte mit Sorgenfalte-

10.06.2015 15:18


Freitag, 5. Juni 2015

Da ist sie wieder: die Phase der Stagnation.
10 Kilo sind runter seit Februar und nun bleibe ich seit zwei Wochen auf diesem Stand. Ich denke an meine drei Heiligen, San Francisco, Zint Maarten und San Remo und bemühe mich, der Versuchung zu widerstehen, die drei Hühneraugen unter meinem linken Fuß nach ihnen zu benennen.
    Aus langjähriger Erfahrung mit dem Abnehmen ist mir diese Phase nur zu gut bekannt – und außer „weitermachen“ hilft da gar nichts. Und selbst das Weitermachen trifft zuweilen auf Hindernisse, wie z.B. vorletzten Donnerstag als Herr Brandebusemeyer und ich frohgemut zum Aquafit aufbrachen, nachdem wir berufs- und feiertagsbedingt zweimal keine Wassergymnastik hatten machen können. Da standen wir dann vor der verschlossenen Schwimmbadtüre und ein Zettel sagte uns, das Schwimmbad könne wegen technischer Probleme bis zum 6. Juni nicht genutzt werden. Na toll! Wozu haben wir eigentlich unsere Telefonnummern bei der Anmeldung angeben müssen, wenn dann trotzdem keiner anruft, um uns zu verständigen, dass es ausfällt?
Gestern war wieder ein Feiertag, d.h. insgesamt vier Wochen kein Wassersport.

    Es gibt natürlich die Möglichkeit, ersatzweise das Agrippabad aufzusuchen und dort auf eigene Faust Bewegungsübungen zu machen. Aber ganz ehrlich, ich habe tatsächlich Hemmungen mit meinem aktuellen Übergewicht ein öffentliches Schwimmbad aufzusuchen. Zwar bin ich es gewohnt, angeglotzt zu werden seit ich denken kann, aber hier scheint es eine Grenze zur Unerträglichkeit zu geben, der ich mich momentan nicht gewachsen fühle.
    Dabei war ich von klein auf eine Wasserratte, hatte nie Angst im Wasser, und bevor ich mit acht Jahren schwimmen lernte, bin ich getaucht, so jedenfalls nannte ich selber meine Fortbewegungsart durchs gechlorte Nass des Müngersdorfer Stadions.
    So richtig schwimmen gelernt habe ich dann im Mittelmeer, bei unserem ersten Spanien-Urlaub mit meiner frisch geschieden Bikini-Mutter. Allerdings war dieser Urlaub für meine arme Mutter alles andere als erfreulich, denn durch den ganzen Stress der Scheidung ging es ihr überhaupt nicht gut. Sie hatte eine böse Gallenblasenentzündung und verbrachte die meiste Zeit im abgedunkelten Hotelzimmer, schlafend, fiebernd und mit Medikamenten vollgestopft. Aus den geplanten drei Wochen wurden fünf  Wochen Aufenthalt, weil meine Mutter nicht reisefähig war.

    Ich hatte Glück im Unglück, denn ein kinderloses Ehepaar aus dem Ruhrgebiet nahm sich meiner an. Sie war eine freundliche Wasserstoffblondine und er ein netter, geduldiger Mann mit beginnender Halbglatze. (Ich stelle gerade fest, dass ich ein ,Frisurengedächtnis‘ habe, denn wie die beiden hießen weiß ich leider nicht mehr.) Mein Urlaubsvertretungs-Vater brachte mir das Schwimmen bei, und das hat er wirklich toll gemacht. Ich war mit einem Schwimmring ausgerüstet, und übte fleißig die korrekten Schwimmbewegungen.
    „Siehst du,“ sagte er, „das kannst du schon. Und jetzt lassen wir ein bisschen Luft aus dem Schwimmring, guck hier, nur ein bisschen.“
    Und so wurde nach und nach immer wieder Luft aus dem Ring gelassen, bis so gut wie keine mehr drin war. Zu guter Letzt wurde dann der Schwimmring weggelassen, er immer neben mir im Wasser gehend, und ich schwamm!
    „Ich kann schwimmen, ich kann schwimmen!“ verkündigte ich stolz meiner Mutter im Hotel.
    Sie kam dann glücklicherweise wieder zu Kräften und wir machten zu viert Ausflüge mit dem Bus. Ich sah den Stierkampf und die Gaudi-Kirche in Barcelona, kaufte echte Holzkastagnetten in der Musikalienhandlung und in einem Hutladen einen Fächer, den ich heute noch benutze.
    Wieder daheim musste ich mich erst mal an die neue Wohnsituation gewöhnen. Hatten wir doch vor der Scheidung in einer 4-Zimmer-Wohnküche-kein Bad-Altbauwohnung auf der Venloer Straße gelebt, mussten Mutter und ich uns nun auf ein Anderthalb-Zimmer- Apartment mit Kochnische und Dusche auf dem Karolingerring umstellen. Meine neue Schule war in der Loreleystraße, mein neuer Kinderhort im Volksgarten, meine Mutter arbeitete weiterhin als Schreibkraft im Pressehaus.
    So richtig anstrengend war allerdings, dass sie allabendlich Trost im Cognac suchte. Ich stand morgens, wenn der Wecker klingelte, auf und machte erst mal Kaffee mit Melittafilter und zwei kleinen Kännchen, den ersten Aufguss für sie, den zweiten für mich. Dann begann ich das mühsame Wecken und machte mich erst auf den Schulweg, wenn sie endlich unter der Dusche stand. In dieser Zeit entwickelte sich meine Sorgenfalte auf der Stirn. Ich konnte oft gar nicht einschlafen, weil ich darüber grübelte, wie ich das alles schaffen sollte. Ich schmiedete sogar einen Plan, von zuhause abzuhauen, den ich aber nur sehr halbherzig umsetzen konnte. Mit zwei frischen Unterhosen und einer Zahnbürste im Tornister schwang ich mich auf mein Fahrrad und strampelte die Bonner Straße hinaus Richtung Süden. Bei diesem Fahrrad war das hintere Schutzblech lose und klapperte.
    ,Oh weia‘ dachte ich. ,Mit diesem Schutzblech komme     ich nicht weit! Die Polizei wird mich sofort finden!‘
    Also kehrte ich um, als ich gerade Bayenthal erreicht hatte und kam mit zweistündiger Verspätung in der Schule an, wo ich heulend log, ich hätte mich mit dem Stundenplan vertan. Meine Lehrerin war sehr verständnisvoll, nahm mich in den Arm und versicherte mir:
    „Das ist doch nicht so schlimm. Das kann doch mal     passieren.“
    Im Nachhinein denke ich, meine Mutter wusste sicher überhaupt nicht, dass mein Schutzblech lose war. Aber wo hätte ich auch hingesollt?
    Diese Phase war erfreulicherweise vorübergehend.