Kapitel 14 -HIP, HIPP, HIPPE- Ich hab' Hüfte

17.07.2015 16:06

Dienstag, 7. Juli 2015

Die Ferien haben begonnen, keine Aquafit-Termine bis Ende August, Bewegungstraining fällt zwei Wochen aus und meine sportlichen Betätigungen verlagerten sich auf diverse Gartenarbeiten und drei Auftritte auf den CSD-Bühnen. Da in diesem Jahr der TÜV neue Fristen für die Zulassung von Karnevalsumzugswagen erlassen hatte, fiel unser Prunkwagen für die Rosa Funken und die Röschensitzung aus. Das war eine große Enttäuschung für mich, denn ich musste schweren Herzens auf die Teilnahme an der CSD-Parade verzichten. Vier Stunden durch die Stadt laufen, ist völlig unmöglich für mich, das macht meine angeborene Hüftgelenksdysplasie nicht mit.
Eine Hüftgelenksdysplasie plus Übergewicht ist eine sehr unglückliche Kombination, denn der Verschleiß der Gelenke, der mit der Fehlstellung einhergeht, wird durch das Gewicht erheblich beschleunigt.
Festgestellt wurde die Hüftgelenksdysplasie schon, als ich im Alter von 18 Jahren nach einer schweren Grippe Schmerzen beim Gehen hatte und daraufhin einen Orthopäden aufsuchte. Der Mann war ein junger, temperamentvoller Doktor aus dem Iran, der mir im Überschwang seiner Diagnose zum sofortigen Einbau von künstlichen Hüftgelenken riet.
Damals war ich in der Ausbildung zur Zahnarzthelferin bei Herrn Dr. Behle in Porz-Zündorf.
Als ich von meinem Termin beim Orthopäden in die Zahnarztpraxis zurückkam und voller Panik meinem Chef von der Sache erzählte, beruhigte er mich und schickte mich zu einem älteren, erfahrenen Orthopäden, den er kannte, um eine zweite Meinung einzuholen. Also ging ich zu Dr. Luy.
„Neue Hüftjelenke? Nä, Mädschen, so schnell schießen de Preußen nit.“
Mir fiel ein Stein vom Herzen.
„Aber beim Zahnarzt arbeiten, dat jeht auch nit, da musste viel zu viel stehen.“
Da kullerte gleich noch ein Stein von meinem Herzen, denn so richtig toll fand ich die Ausbildung eigentlich nicht. Ich wollte ja viel lieber Porzellanmalerin werden, was meine Mutter aber strikt abgelehnt hatte mit der Begründung, das sei total langweilig, da müsse man ein Jahr lang immer dasselbe Blatt malen, sie wisse das, weil sie selber eine solche Ausbildung angefangen hätte.
Ich war ein braves Mädchen und begann die Lehre bei Dr. Behle. Ich war durchaus talentiert, was die Assistenz am Stuhl anging, je komplizierter, desto lieber. Das hatte mein Chef sofort erkannt und holte mich immer dazu, wenn es schwierige Füllungen, Extraktionen oder kleinere Eingriffe gab. Die Ersthelferin machte den Abrechnungs- und Bürokram. Nur leider gehörte der Bürokram zwingend zur Ausbildung, und davor grauste es mir mehr als vor der Extraktion eines Weisheitszahn mit zehn kleinen Wurzeln.
Die Hüftgelenksdysplasie war nun der willkommene Anlass, meine Zahnarzthelferinnenkarriere frühzeitig zu beenden. Die Ersthelferin schüttelte verständnislos den Kopf:
„Wenn Sie aufhören, mit Ihrem Freund Sex zu haben, dann haben Sie auch keine Hüftbeschwerden.“
Ja, so einfach ist sie, die Welt der Verklemmten.

Nach vergeblichen Versuchen, in der Welt des Verlagswesens eine Lehrstelle zu bekommen, fing ich dann als ungelernte Bürokraft bei der ,Bundesanzeiger Verlags GmbH‘ an, wo meine Mutter schon seit Jahren angestellt war.  Meine fehlende Begeisterung für Büroarbeit wurde dadurch ausgeglichen, dass ich nette Kolleginnen hatte und am Anfang in den verschiedensten Abteilungen zum Einsatz kam, um dort die unterschiedlichsten Dinge zu tun. Das war neu und abwechslungsreich, es kam erst mal keine Langeweile auf.
Nach kurzer Zeit bekam ich eine Festanstellung und wurde in die Abteilung Abonnementverwaltung gesetzt, wo ich die Einführung der Computer miterlebte. Ich durfte mich nun Datentypistin nennen und die gesamten Abonnentenkarteien in den Nixdorf-Computer hacken – dunkler Bildschirm mit orangefarbenen Zeichen, die aus Pünktchen bestanden, 10 Stunden am Tag, es mussten Fristen eingehalten werden, stapelweise Karteikarten schmolzen dahin, waren verschwunden in der elektronischen Kiste, und am Ende des Arbeitstages fragte ich mich, was ich den ganzen Tag gemacht hatte und wie ich eigentlich hieß.
In wochenlangem Stumpfsinn hatte ich dann meinen Arbeitsplatz selber der Maschine zum Fraß vorgeworfen und wechselte in die Telefonzentrale.
Hüftgelenksbeschwerden waren kein Thema mehr, aber ich legte an Gewicht zu. Bekam von allen Seiten die tollsten Diätvorschläge und die Versicherung, dass ich doch so ein nettes Mädchen sei, wie schade es doch sei, dass ich nicht abnehmen würde.
Dem Wechsel in die Telefonzentrale ging noch eine Demütigung voraus:
„Mit Ihrer Figur können wir Sie nirgendwo brauchen, wo Kundenkontakt stattfindet!“
Da saß ich dann mutterseelenallein in meiner Klausur, nur durch Telefonanlage und Fernschreiber mit der Welt verbunden, sagte unzählige Male:
„Bundesanzeiger Verlags GmbH, Guten Tag.“
„Mit oder ohne Handelsregister-Beilage?“
„Ich verbinde.“
Nebenher las ich. ,Die Budenbrooks‘, ,Sinuhe, der Ägypter‘, ,Unser Mann in Havanna‘, ,Der geschenkte Gaul‘ und solche leicht pornographischen Werke wie ,Memoiren einer Sängerin‘ oder ,Fanny Hill‘.
Ich strickte diverse Pullover mit Norwegermuster und wartete auf den Freitag, wenn endlich Chorprobe war.
Da war mein Gefühl zuhause, Atemübungen, Einsingen und Einstudierung von mehrstimmigen Chorstücken. Ja, und natürlich eine Gemeinschaft von politisch engagierten Menschen: Der Chor Kölner Gewerkschafter!

Aus dieser Zeit stammt das folgende Gedicht:

BÜROTRAUM

Wenn ich aus dem Fenster schau‘
vom fünften Stock über der Stadt
Dann sehe ich hauptsächlich grau
weil‘s and‘re Farben hier nicht hat

Doch manchmal ist der Himmel offen
grad wie heut‘, ein schöner Tag
Ein Sonnenstrahl hat mich getroffen
im Haar, wo ich‘s besonders mag

Träumend lehn‘ ich mich zurück
und schaue über‘s Dachgewühl
Zum Horizont wandert mein Blick
da hab‘ ich plötzlich das Gefühl:

Gleich hinter‘m Kaufhaus ist das Meer
Menschenskind, wie schön das wär‘