Kapitel 18 -Warten XXL-

04.11.2015 15:17

Mittwoch, 14. Oktober 2015
Schweren Herzens und Körpers beschwere ich mich über die Schwierigkeiten, die mir das Leben schwer machen. Es fällt schwer, über die Beschwerden zu schreiben, über die Erschwernisse und über die Schwerfälligkeit der Bürokratie. War das jetzt schwer genug?
Wie unschwer zu erkennen ist, hat meine Laune ihren bisherigen Tiefpunkt erreicht.
Natürlich trägt der plötzliche Wetterumschwung mit dazu bei, dass ich reichlich Trübsal blase. Kein goldener Oktober hebt meine Stimmung, draussen ist es genauso grau wie drinnen, da helfen anscheinend auch die Pillen nicht mehr.
In solchen Zeiten passieren dann gerne auch kleine Missgeschicke, wie z.B. die Kaffeetasse auf dem vollen Schreibtisch umkippen und den Taschenrechner ruinieren, den ich mir mal zugelegt habe, als ich Garten-Kiosk-Betreiberin war. Dieser Ausflug in die Welt der Kleingärtner als Geschäftsfrau verdient ein eigenes Kapitel, was ich sicherlich noch schreiben werde, und sei es nur, um mich ein wenig von meiner derzeitigen Gefühlskrise abzulenken.

Donnerstag, 15. Oktober 2015
Dafür, dass ich mich in einer Phase der Schwermut befinde, habe ich heute schon erstaunlich viel auf die Reihe gekriegt. Ich sitze frisch geduscht mit gewaschenem Haar und gekürztem Pony vor meinem justament erworbenen Schreibprogramm, nachdem ich endlich meine Kreditkarte wiedergefunden habe. Ich war bei meinem Hausarzt, um Rezepte abzuholen, und ich habe die Medikamente schon telefonisch bei meiner Apotheke bestellt, damit ich sie morgen abholen kann. Nun gut, für fünf Uhr nachmittags ist das jetzt nicht unbedingt herausragend viel, selbst wenn man berücksichtigt, dass ich erst um halb zwölf aufgestanden bin. In diesem Zeitraum hätte Chuck Norris schon das neue Kölner Stadtarchiv gebaut und eröffnet, aber das ist ja glücklicherweise nicht meine Aufgabe.
Als ich eben von meinem kleinen Ausflug heimkehrte, habe ich in den Briefkasten geschaut und mir vorgestellt, die Bewilligung wäre da drin. War sie natürlich nicht. Seit mindestens 30 Jahren versuche ich, mir keine Hoffnungen zu machen, weil Hoffnung und Enttäuschung Hand in Hand gehen. Das erklärt vielleicht die Tatsache, dass ich meinem Hirn reichlich Raum gebe, mir negative Dinge vorzustellen, um damit vielleicht durch die Hintertür eine „positive Enttäuschung“ zu beschwören.
Wie verbringe ich diese Wartezeit? Es gäbe die Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu tun, wobei sich allerdings die Frage stellt, was ist sinnvoll? Und wenn etwas sinnvoll ist, kann ich es machen, ohne körperliche Beschwerden zu erleiden? Putzen ohne Leiden …
Schreiben ist sinnvoll, denn ich wollte den Weg zur OP beschreiben, nur dass es eben nichts zu beschreiben gibt ausser WARTEN. Also gönne ich mir den Luxus, mir selbst auf den verschlungenen Pfaden meiner Gedankenwelt hinterher zu schreiben.

Samstag, 17. Oktober 2015
Es wird langsam wieder heller in meinem Inneren und es gibt was zu sehen. Ich habe während der letzten zwei Wochen mindestens 600 g Blockschokolade vertilgt!
Daher kommen auch die 4 kg Gewichtszunahme, und nicht etwa davon, dass ich zuviel Fettgedrucktes gelesen hätte. Die klassische Herbstdepression in Verbindung mit dieser nervenzermürbenden Warterei hat mich mal wieder in diesen Zustand der Selbstzerstörung gebracht, gegen den ich kaum ankomme. Dazu kommt dann noch, dass ich mich dafür schäme, keinerlei Selbstdisziplin aufbringen zu können, mich als Versagerin fühle, und dass alles, was ich bisher geschafft habe, anscheinend für die Katz’ war.
Es ist verschwunden, dieses fröhliche „was mache ich als nächstes“. Die Energie, der Optimismus, die Freude am Tun und an der Veränderung – alles weg.

Montag, 19. Oktober 2015
Immer noch keine Nachricht von der Krankenkasse.
In meinem Hirn befindet sich ein Knäuel von Gedanken, aber ich finde keinen Anfang, keinen Faden, an dem ich ziehen könnte, um Sätze daraus zu bilden. Also schreibe ich gerade über das „nicht Schreiben“, was gut zu meiner Einteilung in ‚sowohl-als-auch-Menschen‘ und ‚entweder-oder-Menschen‘ passt. Ganz klar, ich bin ein ‚sowohl-als-auch-Mensch‘. Das macht mich team- und kompromissfähig, beschneidet bisweilen mein Durchsetzungsvermögen und ist wohl nicht zu ändern.
Ich halte es schon für eine Verbesserung meiner aktuellen Situation, hier am Rechner zu sitzen und ‚irgendwas‘ zu schreiben, als am Tablet Solitaire zu spielen. Damit schlage ich nämlich meine kostbare Zeit tot, um mich von mir selbst und der Welt abzulenken.
Wie gut haben es doch Menschen, die sich Geschichten ausdenken können, Romane verfassen, Krimis ersinnen und diese dann zu Papier (oder Bildschirm) bringen können. Das kann ich überhaupt nicht. Mir bleibt nur, Erlebnisse, Anekdoten und Erinnerungen aufzuschreiben oder, wie momentan, meine Gedanken zu tippen.

Freitag, 30. Oktober 2015
Nein, immer noch keine Neuigkeiten. Inzwischen fragen mich einige Mitmenschen, ob ich denn die OP schon hinter mir hätte. Ja, schön wär’s.
Glücklicherweise gab es in den letzten Tagen einige Ereignisse, die mich aus dem ganz tiefen Tal herausgeholt haben, oder die mich zumindest soweit aktiviert haben, dass ich Veranstaltungen besucht habe wie z.B. „Lesezeichen“ im Backes mit dem von mir sehr geschätzten Rich Schwab (der übrigens mein Lektor ist – ein herzliches Dankeschön an dieser Stelle!), Ruth Schiffer (eine unserer unterschätztesten Kabarettistinnen), Volker Becker (Musiker mit einer Herzensliebe zum Volkslied), Elli Pless (Schauspielerin mit laszivem Sirenengesang), und als Gastautorin Regina Schleheck, eine mir bis dahin unbekannte Krimi-Schriftstellerin, deren Kurzgeschichten ich mal als überraschend harten Tobak beschreiben möchte.
Ich hatte bei der anschließenden After-Show-Party Gelegenheit, mit Frau Schleheck zu plaudern und erfuhr, dass dieses kleine, energische Persönchen Mutter von fünf Kindern ist und als Lehrerin u.a. für Deutsch tätig ist. Vom Typ kommt sie eher unscheinbar daher, mit ordentlich gescheitelter, mausgrauer Kurzhaarfrisur und einer niedlichen Stupsnase. Und dann schreibt die Frau derart krude, böse Geschichten, tja, don’t judge a book by the cover!
Außer diesem erbaulichen Abend gab es Termine und Treffen den alternativen Karneval oder die Aktivitäten der AG Arsch huh betreffend. Ich war schon beinahe gestresst, weil ich es nicht mehr gewohnt bin, mehr als drei Termine in einer Woche wahrzunehmen. Aber, keine Sorge, ich war ja nur beinahe gestresst.

Samstag, 31. Oktober 2015
Reformationstag oder neuerdings Halloween.
Da sich die Krankenkasse immer noch Zeit lässt mit der Bearbeitung meines Antrags, kann ich hier zum Projekt weiter nichts schreiben bis auf das, schon im Vorangegangenen beschriebene WARTEN.
Ich habe also viel Zeit zum Nachdenken, was ich sowieso immer tue. Ich finde es wirklich erstaunlich, dass Männer sagen können, sie dächten in dem Moment gar nichts. Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen, ‚gar nichts‘ zu denken. Wie geht das? Oder habe ich eine andere Vorstellung davon, was Denken ist? Immerhin versuchen Menschen, mit Yoga, Meditation oder Entspannung nach Jakobsen das Denken abzuschalten, wenigstens für eine bestimmte Zeit. Und selbst bei diesen Übungen geht es ja hauptsächlich darum, die Aufmerksamkeit umzulenken auf die Vorgänge im Innern und nicht jedem Gedanken nachzugehen. Tja, bei mir rattert es dauernd weiter.
Manchmal gefallen mir meine Gedanken und ich würde sie gerne hier aufschreiben, doch bis ich an den Tasten bin, ist das schöne Gedankenkonstrukt leider wieder zerbröselt, woraus man schließen könnte, dass das Denken nichts bringt, und dass man es daher auch gleich bleiben lassen sollte, was ich vielleicht auch täte, wenn  ich es könnte. Andererseits stelle ich dann wieder fest, dass es gar nicht so nutzlos ist, zu denken, denn wenn es zu Gesprächen mit anderen Menschen kommt, dann bin ich doch froh, mir über manche Themen schon mal so meine Gedanken gemacht zu haben, und dass eben doch nicht alles zerbröselt ist.
Heute habe ich mich zum Beispiel gefragt, warum ich manche Dinge immer doppelt kaufe. Das mache ich bei Butter, Quark und Salatgurken. Beim Kauf von Obst achte ich darauf, immer eine gerade Anzahl von Früchten in den Büggel zu packen, also bei Äpfeln, Birnen oder Apfelsinen. Bei Erdbeeren, Kirschen und anderem Kleinobst nicht, so bekloppt bin ich dann doch nicht. Tatsächlich weiß ich nicht, warum ich das tue und ordne dieses Verhalten unter der Rubrik „Marotten“ ein. Damit wäre das Thema also erledigt, es ist schließlich nicht wichtig, oder?
Hat dieses Verhalten seine Ursache vielleicht in der Sozialisierung durch meine geliebte Großmutter (1907 - 1987), die immerhin zwei Weltkriege überlebt hat, und die eine verständliche Vorliebe für Vorratshaltung hatte? ‚Man weiß ja nie, wann es wieder einen Engpass gibt‘! Das scheint die rationalste Erklärung zu sein, aber eine irrationale Erklärung habe ich selbstverständlich auch noch: es liegt einfach an meinem Sternzeichen Zwilling.
So, das hätten wir also geklärt.