Projekt 3 Heilige (der ganze Text)

06.05.2015 15:42





Projekt 3 Heilige

Sonntag, 22. März 2015

   Anfang Februar habe ich angefangen, mich um eine Magen-Bypass-OP zu bemühen. Mit 168,5 kg will ich mich nicht mehr abquälen.

   Ich gehe nicht ins Kino, weil die Sitze zu eng sind, Flugreisen ziehe ich nicht in Betracht, da haben ja schon sogenannte Normale Schwierigkeiten und wenn ich mit dem Hund unterwegs bin, dann suche ich mir ein Café

   nicht etwa danach aus, ob der Kaffee besonders gut ist, sondern danach, ob es passende Sitzgelegenheiten gibt, am besten ohne Armlehnen. Mein Radius, den ich zu Fuss habe, ist ohnehin auf einen knappen Kilometer beschränkt, spätestens dann muss ich mich hinsetzen.

   Meine Konzerte „stehe ich durch“ mit Schmerztabletten und Doctor Stage (Bühnenmenschen kennen diesen Effekt, der es dem Künstler ermöglicht, auf der Bühne rumzuhopsen trotz irgendwelcher Gebrechen).

   Nachdem ich nun seit meinem fünften Lebensjahr mit dem Thema Übergewicht zu tun habe, einschließlich Appetithemmern, Null-, Atkins-, Brigitte-, oder gar keine Diäten, und Mitte zwanzig 145 kg auf die Waage brachte, dann Mann und Kind verliess, um Sängerin zu werden und dabei 60 kg abnahm (ohne spezielle Diät), dann jahrelang dabei blieb, und mich schließlich nach dem zweiten Kind so bei 100 kg, einpendelte so bis etwa vor zehn Jahren, und ab dann stetig wieder zunahm, war ich nun an dem Punkt, wo ich nicht mehr weiter wusste.

   Vor zwei Jahren war ich schon mal so weit, eine OP anzustreben und versuchte mein Glück an einer darauf spezialisierten Klinik in Wesseling. Dort gewann ich allerdings den Eindruck, dass man die Notlage der Pummels ausnutzte und z.B. Privathonorare abrechnen wollte für Voruntersuchungen, die der Hausarzt genauso gut machen, aber über die Kasse abrechnen konnte. Auf mein Nachfragen sagte man mir, wenn ich die Untersuchung nicht bei ihnen machen würde, flöge ich aus dem „Programm“. Ich fühlte mich über den Tisch gezogen und ging nicht mehr hin.

   Ende letzten Sommers traf ich eine Frau auf einer Kulturparty, die war sehr sympathisch, kein Hungerhaken, aber auch nicht sonderlich fett, ich sage mal: normal knuffig. Mit dieser Frau also kam ich ins Gespräch und sie eröffnete mir, dass sie diese besagte Magen-Bypass-OP hatte machen lassen, mit dem ganzen Programm, was notwendig ist, damit die Krankenkasse diesen Eingriff bezahlt. Und die für mich ausschlaggebende Information war, dass dieser Eingriff minimal invasiv, endoskopisch durchgeführt wurde. Also kein Riesenschnitt in den Wanst, der wer weiss wie schlecht wieder zuheilt, nein, vier kleine Löchlein. Sie war im St. Franziskus Krankenhaus in Köln-Ehrenfeld gewesen. Nach Rücksprache mit meinen diversen Ärzten, die mich in dieser Idee unterstützen, machte ich einen Termin und nun bin ich in der Vorbereitung.

   Das soll ein halbes Jahr dauern und beinhaltet einmal die Woche Bewegungstraining für Adipositaspatienten -ich nenne es Moppelhopsen-, einmal im Monat zur Ernährungsberatung, und zusätzlich musste ich mir in Eigenregie eine weitere Stunde Sport pro Woche organisieren.

   Ich mache Aquafit, weil ich damit schon früher gute Erfahrungen gemacht hatte. Besonders schön dabei ist, dass mein Kollege Matthias mitmacht. Er meinte, es täte ihm auch gut und er könne sich alleine ebenfalls schlecht motivieren.

Sonntag, 29. März 2015

   Nun habe ich schon einige Termine der sportlichen Art hinter mich gebracht, und zu meiner freudigen Überraschung macht das wirklich Spaß. Unsere Moppelhops-Vorturnerin heißt Jasmin und ist sehr freundlich und fürsorglich. Es darf anstrengend sein, aber nicht schmerzen. Alle Moppel sind geschickt im Bälle werfen und fangen, und die weiblichen Teilnehmerinnen verfügen auch über mehr Grazie, als sich der Laie ausmalen mag. Das ganze Training wird mit Musik absolviert, und ich konnte ein Helene-Fischer-Verbot durchsetzen!

    Letzte Woche kam ein neuer Teilnehmer, ein sehr großer (über 2 Meter) Mann, der den Musikwunsch „Rammstein“ und „ACDC“ hat, aber die Damen in der Gruppe schauten skeptisch und der bereits vorhandene Herr steht auf „Pur“ - naja, Männer eben. Wir Mädels stehen auf Jennifer Lopez und ABBA ...

  Beim Aquafit trainiert uns Gill.

   Bewegung im Wasser ist für mich die Befreiung von der Erdenschwere, Aufhebung der Schwerkraft und beschert mir die unglaubliche Leichtigkeit des Sports. Matthias ist der einzige Mann in der Truppe, die ansonsten aus mehr oder weniger moppeligen Damen im besten Alter besteht. Und das Training ist durchaus als stramm zu bezeichnen, was ich ganz grossartig finde, denn an Land könnte ich das alles gar nicht machen: in grossen Schritten laufen, springen, dabei die Knie ganz hochziehen ...

   Und nach dem Training bin ich dann erschöpft, aber sehr zufrieden und ein wenig stolz auf meine Leistungen.

   Nun gehört zum Pflichtprogramm vor der Bewilligung der OP auch die Ernährungsberatung, die einmal im Monat im Konferenzraum des St. Franziskus stattfindet. Beim ersten Termin standen bei meiner Ankunft schon einige Moppels vor der verschlossenen Tür und warteten auf die Oecotrophologin, und ich konnte mir ein: „Na hier ist ja schwer was los“, nicht verkneifen.
 
   So ein Konferenz- oder Seminarraum, grauer Teppichboden, rechteckige Tische zu einem großen Rechteck zusammengestellt, künstliche Beleuchtung, vorne eine Leinwand, der eine oder die andere wird so was kennen, wirkt auf mich jedes Mal deprimierend. Das ist keine geeignete Umgebung für ein etwas in die Jahre gekommenes Bühnenmädchen. Aber mein guter Wille war da, und ich konnte mir vorstellen, dass ich durchaus noch Informationen erhalten könnte, die mir noch nicht bekannt sind.
 
   In der ersten Unterweisung (anderthalb Stunden) hatten wir gleich eine „Vertretungslehrerin“. Die war ganz in Ordnung und war sich darüber im Klaren, dass Menschen mit Übergewicht in der Regel eine Menge über Ernährung wissen, und so konnte ich das Ganze recht gut ertragen, sammelte die „Hand-outs“ in meine Mappe und bewunderte die Nährwertpyramide etc.

   Was mich verblüffte: ich war die älteste Teilnehmerin! Die meisten waren zwischen Mitte 20 und Mitte 30!

  Beim zweiten Termin kam dann die eigentlich zuständige Oecotrophologin und die fand ich anstrengend, wie übrigens auch die jüngeren Mädels in der „Klasse“. Da wurde geschwätzt und gegiggelt, während sich neben mir eine türkische Dame von ihrem Sohn immer wieder was übersetzen ließ. Undisziplinierte Gruppen sind mir körperlich unangenehm.

   Es wurden dann runde Pappbilder ausgeteilt, auf denen Nahrungsmittel zu sehen waren, so was wie: eine Portion Fritten, aufgeschnittene Tomaten oder Gurken, eine Salzkartoffel, eine Portion Nudeln, und in meiner Reichweite lag ein Bild mit einem Hähnchenschenkel. Daraus sollte wir nun eine Mahlzeit zusammenstellen. Klar, haben natürlich alle richtig gemacht, klar ganz gesund und ausgewogen, alles prima. Ich hatte den erwähnten Hähnchenschenkel (roh, ohne Haut fotografiert) und wurde von der Lehrerin gefragt, ob ich den (Augenzwinker) mit oder ohne Haut nehmen würde. Getreulich antwortete ich:
   „Mit Haut“ worauf die 24jährige Bäckereiverkäuferin ein lautes:
„!Iiiihh!“ vernehmen ließ. Ich verbat mir daraufhin abwertende Äusserungen zu den Ernährungsvorlieben anderer Teilnehmer, weil das unhöflich sei. Sie entschuldigte sich kleinlaut.

   Aber es wurde noch besser, als die Auszeichnungspflicht für Lebensmittel zur Sprache kam, denn da meinte die Lehrerin, niemand wolle schließlich Esel oder Pferd essen!

   Ich dachte, ich hör´ nicht recht!

   Ich sagte, dass ich in Spanien sehr köstliche Eselssalami kennengelernt hätte, und dass es sicherlich nicht zu ihren Aufgaben gehöre, uns ihren persönlichen Geschmack zu vermitteln. Das hat sie dann auch eingesehen und meinte, dies sei ja keine Anweisung gewesen, sie hätte doch nur etwas von sich preisgegeben.

   Wie unschwer zu erkennen ist, mache ich mich in dieser Gruppe nicht so gut, kein Mensch hat Klugscheißer lieb, aber was soll´s, nur noch vier Mal.

Samstag, 11. April 2015

3 Heilige?

   Warum, um Himmels Willen, oder für Atheisten, warum, in aller Welt 3 Heilige?

   Um das nötige Durchhaltevermögen für dieses Projekt aufzubringen, dachte ich darüber nach, was ich denn gerne tun würde, wenn ich 40 - 60 Kilo leichter wäre. Das erste, was mir einfiel war: Reisen! Ich möchte nach Zint Maarten/St. Martin (Säng Matäng), weil es eine halb niederländische, halb französische Insel ist, wo ein Schulkamerad von mir mit seinem Mann lebt. Bei seinem letzten Besuch hier in Köln habe ich mir ausgiebig schildern lassen, wie es da so ist, und ob es da wirklich so ist, wie in der britischen Krimiserie „Death in Paradise“ zu sehen war, die mein Fernweh entfachte. Die Serie wurde nämlich auf der Nachbarinsel gedreht, und Boris bestätigte mir, dass es dort ziemlich genauso ist. Ich bin nicht so besonders abenteuerlustig, halte mich aber gerne an schönen Orten auf, und wenn ich dann auch noch jemanden dort kenne, dann rückt ein solcher Reisewunsch in die Nähe des Machbaren. Das ist also der 1. Heilige.

   Ein weiteres Wunschziel ist San Francisco, denn ich habe noch nie die Vereinigten Staaten besucht, und San Francisco mit seinem gemäßigten Klima, Hafenstadt und knapp so groß wie Köln, das würde mich interessieren. Das ist Heiliger Nr. 2!

   Und mein drittes Reiseziel ist San Remo, weil ich so lange nicht mehr dort war. Ja, da haben wir den dritten Heiligen.

   Nicht zu vergessen das hiesige San Francisco, also das St. Franziskus-Krankenaus in Ehrenfeld, wo ich letzten Dienstag wieder zum Moppel-Hops war und trotz fieser Rückenschmerzen alles mitgemacht habe, was ich konnte, manche Übungen dann eben im Sitzen, besser ging´s nicht. Jasmin hat mir auch noch ein paar Übungen gezeigt, um mein Kreuz wieder zu lockern.

   Und dann folgte der Mittwoch - wie schnell ein Monat doch vergeht! Die dritte Stunde Ernährungsberatung stand auf dem Programm. Mich innerlich ermahnend, gelassen zu bleiben, aufmerksam dem Unterricht zu folgen und am besten eher die Klappe zu halten, betrat ich den Seminarraum, der noch genauso rechteckig, grau und trostlos war, wie einen Monat zuvor. Jede/r hatte schon seit dem zweiten Abend seinen Stammplatz, also setzte ich mich auf meinen Platz und harrte der Dinge die da kommen würden. Die Projektionsfläche hinter der Oecotrophologin blieb grau, während sie das Thema der dritten Beratung verkündete: Hunger und Sattsein. Aha!

   Sie forderte uns auf, Hunger zu beschreiben. Eifrig wurden Begriffe in den Raum gerufen: Man hat schlechte Laune; Magenknurren; Loch im Bauch; und so fort ... ich dachte: Naja Hunger, Hunger, wir leben ja nicht in der Sahelzone und der Hungerwinter 45 war lange vor meiner Geburt, Hunger ... Hunger, also gut, wenn ich 6 Stunden nichts gegessen habe, meldet sich mein Magen mit einem unangenehmen Gefühl ... Da wurde ich jäh aus meiner inneren Betrachtung gerissen, weil die Oecotrophologin plötzlich feststellte, dass wir ja gar nichts sehen!

   Wie jetzt, ich kann meinen Hunger nicht sehen???
Nein, die Powerpoint-Dingsda liefe nicht, weil der „Sowieso“ das Ladekabel nicht mitgebracht hätte, und sie müsse nun mal ganz schnell weg, um dasselbe herbeizuschaffen, wir würden gar nicht merken, dass sie überhaupt weggewesen wäre, so schnell sei sie wieder zurück,  also keine zwei Minuten und sie wäre wieder da ... Ja meine Güte, dachte ich, dann hör auf zu sabbeln und geh‘!

   Meine Gelassenheit nutzte sich schneller ab, als ich mir vorgenommen hatte. Ja, dann kam Miss Powerpoint auch schon wieder, verstöpselte die Gerätschaften und wir konnten den Hunger sehen.

   Das Thema Appetit kam dazu, wieder Schilderungen der Teilnehmer/Innen: Weil etwas lecker riecht, wenn man wo vorbeigeht ..., Weil man Langeweile hat ..., weil frau ihre Tage bekommt ..., und jeder Beitrag wurde von der Oecotrophologin mit einem verständnisvollen Kopfnicken und mitleidigem Hochziehen der Augenbrauen bedacht. Sie versuchte sich per Blickkontakt durch ihre großen Brillengläser mit uns zu solidarisieren, sie die Oecotrophologin, in ihren grauen Schlabberklamotten, mit keiner Haarfarbe und selbstverständlich schwanger.

    Was habe ich dennoch an Sachinformation neu dazubekommen?

   „Der Magen braucht eine halbe Stunde, bis er dem Gehirn meldet, dass eine Sättigung eingetreten ist.“  Damit kann ich arbeiten. Eine Sachinformation pro 90 min. Ernährungsberatung muss mir genügen. Bis zum nächsten Blogeintrag verabschieden sich 161,9 kg


Sonntag, 19. April 2015

Der übergewichtige Mensch fällt auf. Die Leute glotzen mehr oder weniger verhohlen, manch einer fühlt sich berufen, nach wenigen Minuten des Kennenlernens mit wohlmeinenden Ratschlägen aufzuwarten, Diäten zu empfehlen ... „Also einer Freundin von mir hat ja die Hollywood-, Brigitte-, Atkins-, Null-, Trennkost-, Weight Watchers-, oder sonst was - Diät total geholfen!“

   Wie schön für die Freundin, und ach, da habe ich ja noch nie was von gehört.
   Und meist verbirgt sich hinter solchen prima Tipps die nie gestellte Frage: Wie kann ein Mensch so fett werden?

   Meine Mutter hatte natürlich auch das Problem, von allen Seiten auf ihr dickes Kind angesprochen zu werden, und stand der Angelegenheit ziemlich hilflos gegenüber. Beim Klamottenkauf konnte ich ihren Unmut spüren, weil es eine ewige Sucherei war, etwas Passendes zu finden, weil es immer teurer war, als sie eigentlich ausgeben wollte, und weil es dann doch eben nur so halbwegs gut aussah. Bisweilen trieb ihre mütterliche Fürsorge sie an die Nähmaschine, da wurden dann sogenannte Trägerröcke angefertigt. Ein ganz unvergessliches Exemplar war aus braunem Kunstleder.

   Meine Mutter hatte das, was man eine Superfigur nannte, also quasi Topmodel, damals sagte man Mannequin. 1966 ließen sich meine Eltern scheiden, und ab dieser Zeit reiste ich mit meiner Mannequin-Mutter jeden Sommer nach Spanien, wo sie im Bikini eine gute Figur machte und mir beibringen wollte, wenigstens den Bauch einzuziehen (s. Foto ganz oben).

   Wie dort unschwer zu erkennen ist, hielt sich mein Übergewicht damals noch in Grenzen, zumal wenn ich mich heutzutage so umschaue bei den jungen Menschen. Dennoch, ich war der einzige Pummel weit und breit, das einzige Kind mit geschiedenen Eltern weit und breit, und ganz klar: mit mir stimmte was nicht.

   Doch der Anfang dieser Unstimmigkeit liegt noch weiter zurück, denn die Scheidung meiner Eltern, die mich völlig überraschend traf, als ich aus den dreiwöchigen Kinderferien mit dem Jugendfahrtendienst zurückkehrte, war eher die Bestätigung, dass ich kein „normales“ Kind war.

... und es war Sommer
... als ein pickeliger 17 Jähriger durch den Stadtgarten lief, den Wogen seiner Hormone ausgeliefert, der Macht seiner Gelüste nicht mächtig, auf der Suche nach Erlösung von seinem sexuellen Verlangen. Da musste es doch jemanden geben, ein weibliches Wesen, das er berühren, erkunden, verführen konnte.

   Er wusste selbst nicht, wie viele Runden er schon im Park gedreht hatte, in dieser lauen Sommerluft, vorbei an all den luftig gekleideten jungen Damen, die ihn keines Blickes würdigten oder hinter seinem Rücken über ihn kicherten. Doch dann sah er sie! So süß, so niedlich, so adrett, so versunken im Spiel, so unschuldig; sie sollte es sein. Ein kurzer Kontrollblick, niemand in der Nähe, entschlossen packte er sie und verschwand mit ihr im Gebüsch, mit dem linken Arm umfasste er ihren kleinen Körper, mit der rechten Hand hielt er ihr den Mund zu, damit sie nicht schreien konnte ...

   ... unsere Nachbarin, eine Taxifahrersgattin namens Schmitz, die wie üblich mit dem Kissen auf der Fensterbank die Umgebung beobachtete, bemerkte mein plötzliches Verschwinden von der Bildfläche ... „Wie dat Marrijon op eimol fott wor ... „ und rief mit dem Taxifunkgerät die Polizei, die mit Martinshorn und Blaulicht anrückte, woraufhin der Pickelige mich von sich stiess und die Flucht ergriff.

   Völlig verheult, verstört, mit der vollgepieselten Unterhose in der Hand wurde ich eingesammelt, von wem, keine Ahnung. Polizei, Eltern, Nachbarin, da endet die Geschichte erst mal ...
Fortsetzung folgt ...
                                      
160,8 kg   

Donnerstag, 23. April 2015

   Momentan brauche ich die ganze Kraft der 3 Heiligen, denn die Schwierigkeiten kamen schneller als erwartet.  
              
   Das ging am Montag los, nachdem ich ein recht aktives Wochenende hinter mich gebracht hatte: Hausarbeit, endlich mal ein längerer Sonntagsspaziergang, Grillen mit Freunden. Dann am Montag, bei einer gewöhnlichen Bewegung, ein stechender Schmerz im linken Knie!

   Zuviel Bewegung? Habe ich mich übernommen? Habe ich gar übertrieben?

   Wie auch immer, erst mal Stillstand, das Knie lässt sich bis heute noch nicht ganz gerade strecken, dann tut`s weh.

   Doch dieser Montag hatte noch mehr Unbill für mich bereit, denn als ich mich dafür entschied, weiter an diesem Text zu arbeiten, um mein Knie zu schonen, zickte die Technik, der neue Eintrag ließ sich nicht auf die Website hochladen, keine Ahnung, warum nicht, letzte Woche ging`s noch, und ich bin keine Kennerin der Materie, was Computer-, oder Netzangelegenheiten angeht. Ich will, dass es funktioniert, egal wie und warum, dafür habe ich Geld ausgegeben. Ich muss ja auch keine Uhr reparieren können, um die Zeit abzulesen.

   Nachdem ich mich vergeblich durch das Service-Center meines Domain-Verkäufers geklickt und noch mehrere Versuche gestartet hatte, den neuen Eintrag zu veröffentlichen, gab ich entnervt auf und beschloss, mich der Zubereitung des Abendessens zu widmen, denn da lagen noch Scheiben von der Kalbshaxe im Kühlschrank, die zu Osso bucco verarbeitet werden wollten.

   Ich humpelte in meiner Küche herum, traf Vorbereitungen, stellte die benötigten Zutaten zurecht, u.a. eine halbe Flasche Weißwein. Ja, und als ich da so hantierte, nach der Pfeffermühle griff, paaff! ... knallte besagte Flasche auf den frischgeputzten Fliesenboden und zerdepperte in unzählige Scherben.

   Nun humpelte ich los, Handfeger, Schaufel, Wischmop herbeizuschaffen, den Hund davon abzuhalten, durch die in der gesamten Küche verteilten Scherben zu laufen, und versuchte die Sauerei zu beseitigen. Nachdem ich danach den Bräter endlich im Ofen hatte, saß ich heulend am Küchentisch und wollte nur noch nach Hause, aber da war ich ich ja schon.

   Am darauffolgenden Dienstag, waren die Schmerzen beim Aufstehen schlimmer als tags zuvor, und ich musste schweren Herzens und Körpers meine Teilnahme am Moppelhops absagen, ich wäre noch nicht mal bis zum Auto gekommen, um dorthin zu fahren.


Mittwoch, 29. April 2015

   Gestern war ich dann wieder beim Moppelhops, und konzentrierte mich darauf, bei größtmöglicher Anstrengung unter der Schmerzgrenze zu bleiben. Unsere Kursleiterin Jasmin war etwas in Sorge,  und wollte mich aufmuntern:
   „Marion, wie bekommen wir dich denn zum Lachen? Hast du schlechte Laune?“

   „Oh nein, ich sehe immer so aus, wenn ich mich konzentriere.“

   Das erinnerte mich an meine Kinder, die dann ängstlich fragten: „Mama, bist du böse mit mir?“

   „Nein, mein Schatz, ich bin nicht böse, ich denke nur nach. Alles ist gut.“

   Also weiter mit den Stretchbändern, ziehen, vor dem Körper, hinter dem Körper, oben, unten, schneller, langsamer, und ich machte das alles die meiste Zeit im Sitzen, anders geht es nicht.

   Die Teilnehmer an der Adipositas-Bewegungsgruppe können im Krankenhaus-Parkhaus kostenlos parken. Dazu tauschen wir unsere ordnungsgemäß gezogenen Parkscheine bei Jasmin gegen freie Parkscheine um. Meistens klappt das auch, nur hatte ich gestern Pech, der Freiparkschein öffnete nicht die Schranke, sondern forderte mich auf, zu zahlen. Hinter mir stand schon der nächste Wagen, na toll, der Fahrer setzte auch nicht zurück, damit ich mich woanders hinstellen konnte, dann eben nicht, muss er halt warten, denn ich wollte einfach bezahlen, damit ich rausfahren konnte. Da zeigt der Bezahlautomat € 759,- an!
Ok, € 4,- hätte ich mir ja noch gefallen lassen, aber der angezeigte Betrag war definitiv inakzeptabel. So musste ich die arme Jasmin, die schon auf dem Weg zur KVB war, per Mobiltelefon zurückbeordern, um mich aus dem Parkhaus zu befreien.

  In dieser Situation fand ich Sport tatsächlich sehr anstrengend.


Donnerstag, 30. April 2015

   Ich wälze (ge)wichtige Fragen hin und her:

   Habe ich heute ein extremes Übergewicht, weil mein geringes Übergewicht in der Kindheit und Jugend nicht akzeptabel war, weil ich unter dem ständigen Druck stand, abzunehmen?

   Wenn ich heute auf Fotos von mir sehe, wie dick ich als Kind war, dann besteht da ein gewaltiges Missverhältnis zu dem, wie dick ich mich fühlte.

   Zudem war meine Mutter höchst unzufrieden mit meiner Gestalt, aber auch unfähig, meine gesunde, regelmässige Ernährung zu gewährleisten, u.a. weil sie berufstätig war.

   Ab meinem Wechsel von der Volksschule zum Gymnasium fuhr ich, je nach Wetterlage mal mit dem Bus, mal mit dem Fahrrad, nach der Schule von der Südstadt nach Lindenthal zu meiner Oma. Dort gab es eine warme Mahlzeit, aber auch katastrophale Ernährungshinweise wie z.B.:  

   „Trink nicht so viel Mineralwasser, iss lieber einen Fruchtjoghurt.“ Das waren diese weißen Joghurts mit dem  Klacks Marmelade unten drin. Meine Oma sprach immer von „Jochott“.
 
   Wenn ich, was häufiger vorkam, auch mein Abendbrot bei der Oma einnahm, gab es ein kleines Glas Bier dazu! Da war ich acht!

   Ab meinem 12. Lebensjahr wohnten wir, meine Mutter und ich, dann in Porz-Eil und ich wechselte auf das Stadtgymnasium Porz.

   Meine Mutter kochte am Wochenende, und wenn ich Glück hatte, blieb ein Rest, den ich mir montags aufwärmen konnte. Die übrigen Wochentage gab es keine Mahlzeit, wenn ich hungrig von der Schule kam. Daher rührt vielleicht meine Abneigung gegen Butterbrote, die ich mir dann machen sollte, und aus denen auch das gemeinsame Abendessen bestand.

   Ich experimentierte des öfteren mit den vorhandenen Lebensmitteln, briet Brotscheiben in der Pfanne, lutschte tiefgefrorene Pflaumen, die aus Omas Garten stammten, und lernte Nudeln zu kochen, die dann mit Ketchup verzehrt wurden.

   Ok, es war auch meistens Obst vorhanden, aber wenn man sich an Orangen sattessen will, muss man schon größere Mengen verzehren.

   Mit diesen dankbar schlechten Startbedingungen führte mein Weg in die Pubertät, das unerreichbare Schönheitsideal Twiggy vor der Nase.

Freitag, 1. Mai 2015

   Wassergymnastik statt Tanz in den Mai, kleiner Spaziergang mit Mann und Hund im Park statt Mai-Kundgebung, so sieht es aus.

   Es gibt inzwischen sehr viele Veranstaltungen, die ich nicht mehr besuche, weil es dort voraussichtlich keine Sitzgelegenheiten gibt. Das ist frustrierend, aber die Aussicht, auf eine erhebliche Gewichtsreduktion verhindert, dass ich verzweifle. Und diese Aussicht hilft mir auch dabei, trotz Schmerzen in den Gelenken des Bewegungsapparates weiter zu machen mit den sportlichen  Aktivitäten. Ja, und es macht mir wirklich Spaß, wie gestern beim Aquafit, mit meinem Freund und Kollegen Matthias. Zirkeltraining stand auf dem Plan. Ich liebe Zirkeltraining, man macht lauter verschiedene Übungen, jeweils zwei ähnliche Übungen an den einzelnen Stationen, und immer auf Kommando geht es weiter. Das war schon zu Zeiten des Schulsports eine prima Sache für mich, im Gegensatz zu anderen Zumutungen wie etwa Geräteturnen, 100-Meter-Lauf oder gar 1000-Meter-Lauf.

   In besonders gruseliger Erinnerung habe ich Frau Grunenberg, die selbst eine kleine, knubbelige Person war, vom Alter her irgendwas Undefinierbares über vierzig, und der festen Überzeugung, dass ich alles können müsste, was alle anderen auch konnten. Ich hatte den Verdacht, dass sie ihre ersten sportlichen Meriten beim BDM errungen haben musste, Adolfs Bund deutscher Mädel.
 
   Meine Sportnoten bewegten sich zumeist zwischen ausreichend und mangelhaft. Und dann diese fürchterlichen Bundesjugendspiele! Ja, Herrgott nochmal, es heißt LEICHT-Athletik! Die einzigen Disziplinen, bei denen ich nicht völlig versagte, waren Kugelstossen und Diskuswerfen, ich kam mir vor wie so eine bärtige Russin, die ihre Männer erst schält und dann verspeist.

   Die Grunenberg hat mich auch am Stufenbarren drangsaliert mit der Hockwende über den oberen Holm. Der wurde erst ganz tief eingestellt und dann immer ein Stück höher, ich hatte unglaublich große Angst, war den Tränen nahe, aber die Grunenberg ließ mich nicht anders runter vom Gerät als mit besagter Hockwende. Die Hockwende an sich war weniger das Problem, aber die Höhe! Da ging´s ja fast zwei Meter runter, und dann sollte ich noch elegant landen. Nachdem ich mir schließlich meinen rechten Zeigezeh gebrochen hatte, ließ das Monster von mir ab.

   Meine Qualen nahmen ein Ende, als ich vom Gymnasium auf die Realschule wechseln musste. Irgendwie hatte ich den vierten Schulwechsel innerhalb von sechs Jahren, inklusive Kurzschuljahre, nicht mehr kompensieren können, war zweimal sitzengeblieben und bis auf meine Biologielehrerin waren die anderen Pauker ganz froh, dieses Scheidungskind endlich los zu sein.

   Meine Mutter belegte mich mit einem halben Jahr Stubenarrest wegen meiner Faulheit und verbot mir den Kontakt mit meiner Clique, um deren schlechten Einfluss auf mich zu unterbinden. Die schlechte Ernährungslage änderte sich nicht.

   Ich begann meine fünfte Schulkarriere mit einer leichten Verspätung, wahrscheinlich wegen der Orientierung im neuen Gebäude und klopfte gottergeben an die Tür der Klasse 9b. Harald Rose, zwei Köpfe kleiner als ich, öffnete mir und erschrak sichtlich bei meinem Anblick. Lange Haare, Mittelscheitel, Jeans, Fransen-Boots und Bundeswehrparka, so blickte ich gelassen auf meinen zukünftigen Mitschüler herab und betrat die Klasse mit den Worten: „Ist das hier die 9b? Ich heiße Marion Schulten und soll hier hin.“

   Frau Schmidt, die Klassenlehrerin musterte mich leicht amüsiert und wies mir einen Platz zu, neben Sonni Sonnenberg, ebenfalls neu, ebenfalls Parka.

   Ich war nun gerade mal 16, maß 1,78 und war nicht zierlich. Die neuen Klassenkameraden und -kameradinnen waren zwei Jahre jünger, trugen Ringelpullis und Cordhosen, bzw. Cordröckchen und bestaunten mich wie ein Alien.

   Ich schrieb damals in mein Tagebuch: „Oh Gott, meine neue Klasse ist ein Kindergarten. Wie soll ich das aushalten?“

   Abgehärtet durch meine diversen Schulwechsel und mit dem festen Entschluss, eine erfolgreiche Schülerin zu werden, legte ich eine wahre Blitzkarriere hin, wurde dank meiner grossen Klappe nach einem Halbjahr Klassensprecherin, dann Schülersprecherin, belegte Tennis, Volleyball und Standard-Formationstanz als Sport AG, wurde Mitglied des Schulchors und mit meinem Akkordeon, das meine Oma mir geschenkt hatte, auch bald Mitglied des Schulorchesters. Ich machte meinen Abschluss mit 1,9.

   Durch die Teilnahme an diesen vielen AGs konnte ich den Stubenarrest weitestgehend ausser Kraft setzen. Ich hatte mich als grosses, dickes Mädchen in der Hackordnung ganz nach vorne gebracht, mich quasi unangreifbar gemacht ...

   Und hatte natürlich keinen festen Freund.


Montag, 3. Mai 2015

Was schreibe ich hier eigentlich?

   Mein Plan war es, über den Weg zur OP zu berichten. Das mache ich.

   Natürlich beschreibe ich besonders gerne die Absurditäten und Merkwürdigkeiten, die kleinen Pannen und Malheurs, doch soooo viele sind das nun auch nicht, worüber ich eigentlich froh sein sollte.

   Also beschäftige ich mich mit der Frage, wie es denn überhaupt so weit kommen konnte.
Und schon befinde ich mich im großen Aktenschrank mit den Erinnerungsschubladen, die ich je nach Thema aufziehe, darin wühle und stöbere, mich vergesse auf dieser Zeitreise, eintauche, um eine Erinnerung wie einen Schatz an die Oberfläche zu bringen und aufzuschreiben.

   Der Bericht über meine „Blitzkarriere“ an der Realschule Porz-Wahn liest sich wie ein Abschnitt aus meinem Lebenslauf, Fakten, Fakten, Fakten ... und tatsächlich habe ich damals alles dafür getan, Anerkennung und Zuneigung zu bekommen, nicht zuletzt von meiner Mutter, aber selbstverständlich auch von MitschülerInnen und LehrerInnen.

   Meine Hauptenergiequelle war Trotz. Wenn ich schon dick war, dann doch bitte nicht auch noch doof. Wenn schon unglücklich in meinem Körper, dann aber wenigstens beliebt bei den MitschülerInnen. Wenn schon groß, dann auch großartig.

   Trotz meiner drei Sport- und zwei Musik-AGs verbrachte ich immer noch genug Zeit alleine zu Hause, mit meinem Stubenarrest, ich übte wie eine Irre Blockflöte und Akkordeon, denn das vertrieb die Grübeleien darüber, wie es wohl wäre, wenn ich dünn wäre, wenn ich schön wäre, wenn meine Eltern nicht geschieden wären, wenn ich einen festen Freund hätte, wenn ich einfach nicht ich wäre.

Freitag, 15. Mai 2015

   Natürlich wusste ich, dass bei einem solchen Körper-Projekt irgendwann diese Flaute eintritt, die erste Begeisterung sich legt. Die Moppelhops-Termine werden langweiliger, die Aquafit-Termine fallen aus, weil im Mai diese Donnerstagsfeiertage sind, die Laune sinkt.

   In der Süddeutschen Zeitung war zu lesen, dass eine Frau aus dem Kölner Umland ein Buch über ihre Magenverkleinerung geschrieben hat, Auszüge daraus waren in diesem Artikel zu lesen. Ach ja, warum sollte gerade ich die erste sein, die sich zu diesem Thema schriftlich äußert? Meine Freundin Nicola versicherte mir aber sofort unaufgefordert, dass ich viel schöner schreibe.

   Mir fiel dann gleich wieder ein, dass ich Ende der 80er Jahre den Titel „Unchain My Heart“ mit meiner zweiten Bluesband ,AS BEERS GO BY‘ ins Programm genommen hatte. Ich hatte den Titel in der Schallplattensammlung meiner Eltern gefunden, es war die B-Seite von „If I Had A Hammer“ von Trini Lopez. Kaum einen Monat später kam Joe Cocker mit genau dieser Nummer in die Charts und er hatte damit sein riesiges Comeback. Etwa zur gleichen Zeit fand ich in einer Compilation, die mir mein zweiter Gatte zusammengestellt hatte, einen alten, weitgehend unbekannten Titel: „Why Don‘t You Do Right“. Auch diesen Song nahmen wir ins Repertoire auf. Es dauerte abermals nicht lange und der Film „Roger Rabbit“ kam in die Kinos, und was sang die Night-Club-Schönheit?

   Das wirkte dann so, als hätte ich mich an aktuelle Trends drangehängt, dabei hatte ich anscheinend nur den richtigen Riecher für kommende Trends.

   Jetzt ist also Durchhalten angesagt! Aber was kann ich über das Durchhalten schreiben?

   Es ist keine Frage, ich werde weitermachen. Immerhin habe ich eine erste „Schallmauer“ durchbrochen, ich wiege 159,4 kg, also unter 160 Kilo, das ist ein kleiner Erfolg.
 
   Die vierte Ernährungsberatung habe ich letzten Mittwoch hinter mich gebracht.

   Unsere muntere Oecotrophologin begann die Stunde mit dem Satz:
   „Jetzt machen wir eine kleine, schicke Übung zum Anfang.“

   Dabei verteilte sie bunte Zettel und Eddingstifte aus einer Plastikbox an die Teilnehmer und bat darum, keine Stifte zu klauen.

   Nun sollten wir aufschreiben, aus welchen Gründen wir essen würden. Es sei völlig egal, wie viele Gründe wir auf welche Farbe schreiben würden. Ich entschied mich für hellgrüne Zettel mit dunkelgrünem Stift, während die anderen immer noch mit dem Auswählen beschäftigt waren.

   „Blau für die Jungs und rosa für die Mädels“, schlug ich als Entscheidungshilfe vor, was aber nicht wirklich weiterhalf.

   Endlich war das Büromaterial unter die Leute gebracht und die Zettel wurden eifrig beschriftet.

   Ich schrieb ,Hunger‘ auf einen und ,Sehr, sehr schlechte Stimmung‘ auf einen zweiten Zettel.

   Nun sollten wir vorlesen, was wir aufgeschrieben hatten. Das fand ich enttäuschend unspektakulär, da hatte ich mir doch vorgestellt, dass diese bunten Zettel wenigstens an diese Aufstelltafel gepinnt würden, von wegen ,schicke Übung‘.

   Also lasen wir nacheinander vor: Gemütlichkeit, Geselligkeit, Langeweile, weil ,es‘ da ist; das hatten die meisten auf dem Zettel.

   Ich fragte nach dem Zusammenhang von Geselligkeit und Essen, weil ich wissen wollte, ob sie damit eine gemeinsame Mahlzeit mit Freunden meinten. Genau das war aber nicht gemeint, sondern Chips und Erdnüsse und Knabberkram aller Art, was anscheinend bei sehr vielen Menschen zur geselligen Gemütlichkeit zwingend dazu gehört. Zur einsamen Gemütlichkeit vor dem Fernseher gehört das für einige auch dazu.

   Und wie ist das bei mir?
 
   Sicher, wenn ,es‘ vorhanden wäre, wäre die Versuchung auch für mich groß, diesen Kram zu essen, aber meine Lösung des Problems liegt schon beim Einkauf, indem ich ,es‘ eben nicht kaufe. Und sogar auf Partys, wo solcher Kram schüsselweise rumsteht, sehe ich mich nicht gezwungen, davon zu naschen.

   ,Toll, Frau Radtke, wieso bist du dann eigentlich übergewichtig?‘, -

   fragte ich mich.

   Über die Gründe zu essen wurde, warum auch immer, gar nicht weiter gesprochen, und weiter ging es mit dem Hauptthema der Unterrichtsstunde: FETTE.

   Leider keine neuen Erkenntnisse für mich, alles schon mehrfach gehört, gelesen und seit Jahren bei meiner Nahrungszubereitung berücksichtigt.

   ,Gaaanz toll, Frau Radtke ...‘, lobte ich mich in Gedanken, ... aber wieso bist du dann eigentlich ...???‘

   Inzwischen entspann sich unter den TeilnehmerInnen eine leidenschaftliche Diskussion über Nüsse, Körner, Samen und fetthaltige Pflanzen. Angeführt wurde die Debatte von einer Frau, die zum ersten Mal in unserem Kurs saß und die sich mit ihrem zweiten Satz als Veganerin offenbarte.
 
   ,Auch das noch!‘ Meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, ich klinkte mich innerlich aus, malte kleine, schicke Ornamente auf mein Blatt und wurde erst aus meiner kleinen, schicken Kreativphase gerissen, als irgendwer sagte: „ ... und Amaranth kann man auch poppen.“


Dienstag, 19. Mai 2015

   Wie aus meinen vorangegangenen Schilderungen unschwer zu erkennen ist, bin ich kein Fan von der Oecotrophologin, die den Ernährungskurs leitet, an dem ich teilnehmen muss, damit die Krankenkasse die Kosten der OP übernimmt.

   Als wir unsere bunten Zettel vorlasen, kam unser einziger männlicher Teilnehmer zu Wort, der auch oft aus Langeweile gegessen hatte. Inzwischen sei ihm nicht mehr so langweilig, da er sich einen Hundewelpen gekauft hätte, raus aus der Stadt an den Fühlinger See gezogen sei und viel Freude und Bewegung hätte.
Er wirkte auch frischer, straffer, freundlicher, also deutlich verändert gegenüber seinem Zustand am Anfang des Kurses.

   „Ein Hund ist ein guter Plan.“, pflichtete ich ihm bei.

   „Ich habe auch einen Hund und betrachte ihn als meinen ,personal trainer‘!“

   Die Oecotrophologin wollte nun wissen, wie gross der Hund denn werden würde.

   „Nun, so etwa kniehoch“ gab der Mann Auskunft und zeigte dabei die ungefähre Größe mit der Hand an.

   „Ja, so ein richtiger Hund“ begeisterte sich die Oecotrophologin,

   „nicht so ein kleiner Kläffer!“

   Und da war er wieder, mein Unmut.

   „Vorsicht“, sagte ich, „dünnes Eis!“

   Die Oecotrophologin sah mich halb mitleidig, halb verächtlich an:

   „Ein Hund ist doch nur ein richtiger Hund, wenn er neben dem Fahrrad herlaufen kann.“

   Mal ganz abgesehen davon, dass mein kleiner Hund kein Kläffer ist, und dass das ,neben dem Fahrrad herlaufen‘ in der Kölner Innenstadt nicht unbedingt empfehlenswert ist, war ich fassungslos über dieses unsensible Dahergerede. Ich kann seit ca. drei Jahren gar nicht mehr radeln, weil ich zu schwer bin. Die Unfallgefahr ist viel zu groß, das Auf- und Absteigen bereitet mir Schmerzen in den Knien, aber ich vermisse es total.

   Glücklicherweise geht sie bald in den Mutterschutz, ich muss also ihr vorgetäuschtes Verständnis und ihr mangelndes Einfühlungsvermögen nur noch ein Mal ertragen.






 Montag, 25. Mai 2015

Pfingstmontag, um genau zu sein.
Heute wäre auch der 80ste Geburtstag meiner Mutter, wenn sie nicht im letzten Herbst verstorben wäre. Sie möge in Frieden ruhen.

   Aber ob sie nun tatsächlich ruht, ist fraglich, denn ihr hinterbliebener Gatte hat ihre sterblichen Überreste in der Schweiz zu einem Diamanten verarbeiten lassen, und so bleibt sie dekorativ; das hätte ihr gefallen.

   Das klingt vielleicht zynischer als ich es meine, denn bei allen Schwierigkeiten, die wir hatten, sie war meine Mutter, und wir hatten vor ungefähr 30 Jahren Gespräche, in denen all mein Unmut, meine Vorwürfe und meine Enttäuschungen Thema waren. Sie hatte unerwartet aufrichtig reagiert, sich all meine Klagen angehört und mir dann ihre Seite der Geschichte erzählt. Sie hat darüber gesprochen, wie schwierig es war, 1965 als geschiedene Frau mit Kind zu leben, dass sie von befreundeten Ehepaaren nicht mehr eingeladen wurde, weil die Frauen befürchteten, sie würde ihnen ihre Männer abspenstig machen, dass sie permanent ein schlechtes Gewissen mir gegenüber hatte, weil sie berufstätig sein musste, und dass sie sich sehr häufig überfordert und hilflos vorgekommen sei.
   Nach dieser Aussprache hatten wir für eine ganze Weile ein gutes Verhältnis miteinander. Sie kam dann sogar zu meinem allerersten Auftritt als Solosängerin ins damalige ,FEEZ‘ nach Köln-Nippes.
 
   Sie war schon beim Soundcheck da, was mir zunächst ein wenig peinlich war, aber sie saß ganz unauffällig im hinteren Teil des Raumes und verfolgte das Geschehen.
Nachdem wir, die Bluesband ,Die dritten Zähne‘, fertig waren mit unseren Vorbereitungen, kam sie zu mir und sagte:

„Weißt du, Marion, nachdem ich das nun gehört habe, kann ich dir guten Gewissens nicht raten, irgendetwas anderes zu tun.“

   Da war ich dann erstmal ,baff‘. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Dieses späte mütterliche Lob hat mir sehr gutgetan. Sie blieb bis zum Ende der Veranstaltung und erzählte jedem:

   „Das da vorne ist meine Tochter!“

   Seit jenem Abend unterstützte sie meine Karriere mit Unmengen Modeschmuck und ausgefallenen Kleidungsstücken für mein Bühnen-Outfit und nicht selten mit finanziellen Zuwendungen, wenn es mal nicht so lief.
 
   Das war die Zeit, als ich zum ersten Mal im Leben so etwas Ähnliches wie ein Normalgewicht hatte, denn mit meinem Entschluss, Sängerin zu werden (und nach acht Jahren im Chor eine Gesangsausbildung zu machen) und mein Leben zu leben, egal was andere von mir erwarteten, hatte ich es geschafft, 60 Kilo abzunehmen.
Und dieses erste Konzert mit der Band war die Erfüllung meines von Kind an gehegten Wunschtraums: Sängerin!

   Seltsamerweise hatte meine Mutter ab dem Zeitpunkt, an dem ich begann abzunehmen, angefangen zuzunehmen. Jenes besagte Gespräch über die Mutter-Tochterbeziehung war ein Teil meiner Auseinandersetzung mit meiner Vergangenheit, der ich mich stellen musste, damals mit 25 Jahren.

   Ich war jahrelang eine dicke junge Frau, die mit großem Engagement im ,Chor Kölner Gewerkschafter‘ sang und im Laufe dieser kulturellen Betätigung mit einigen anderen Künstlern (Profis) zu tun hatte. Es gab Schauspiel-Workshops, gewerkschaftliche Kulturseminare, kommunistische Künstlertreffen usw.  

   Auf einer dieser Veranstaltungen sprach mich ein Schauspieler auf mein Gewicht an, und fragte mich, ob ich schon mal an eine Psychotherapie gedacht hätte. Ich war entsetzt! ,Jetzt bin ich auch noch bekloppt?‘ Aber diese Reaktion lag eher daran, dass ich keine Ahnung von Psychotherapie hatte. Jürgen, der Schauspieler, hatte dann etwas Geduld investiert und mir das Ganze mal erklärt, mir Adressen und Infos zukommen lassen, und vor allem berichtet, dass er ebenfalls Probleme mit dem Gewicht hätte.

   Ich bin dann nicht gleich losgerannt, um eine Therapie zu machen, aber zum ersten Mal hatte mich jemand auf den Gedanken gebracht, dass es Ursachen für mein Problem geben könnte, und dass ich eben nicht einfach nur Pech gehabt hätte, was meine Gestalt anging. Und als dieser Gedanke erst mal da war, setzte unaufhaltsam ein Umdenken ein, Veränderungen in meinem Leben wurden zwingend notwendig, und als ich, nach einem Jahr Wartezeit, aufgeregt in meiner ersten Therapiestunde saß, hatte ich die 60 Kilo schon abgenommen. Das war auch gut so, denn dadurch war die Aufarbeitung meiner Kindheit und Jugend frei von Erfolgsdruck.

   Ich beendete die Therapie nach gut einem Jahr, weil der Therapeut sich zu mir auf die Couch legte, um von seinen Ängsten in Höhlen zu reden. Ich war gar nicht empört, aber es machte mich verlegen. Ich neige zur Naivität – immer noch.